Cover
Titel
Framing the Holocaust. Photographs of a Mass Shooting in Latvia, 1941


Herausgeber
Hébert, Valerie
Erschienen
Anzahl Seiten
296 S., 75 SW-Abb.
Preis
$ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paula Oppermann, Berlin

Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung in der besetzten Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs findet zunehmend Beachtung in der Forschung und in der historischen Bildungsarbeit. Fotografien spielen dabei eine wichtige Rolle: Kaum eine Ausstellung über die Shoah kommt ohne das Bild aus, auf dem vier halb entkleidete Frauen und ein kleines Mädchen, das sein Gesicht abwendet, zu sehen sind. Es ist eines von zwölf Fotos, die am 15. Dezember 1941 am Strand von Šķēde, unweit der lettischen Hafenstadt Liepāja (deutsch Libau), entstanden. An diesem und zwei Folgetagen erschossen Angehörige der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS (SD) über 2.700 jüdische Kinder, Frauen und Männer. Es wird vermutet, dass ein deutscher Polizeiangehöriger der Fotograf war. Kurz darauf entdeckte David Zivcon, der für den SD Zwangsarbeit leisten musste, die Bilder, fertigte heimlich Kopien an und versteckte diese. Er überlebte den Krieg und gemeinsam mit Kalman Linkimer, einem weiteren Überlebenden, übergab er die Bilder der sowjetischen Kommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in der UdSSR (ChGK).

Dieser Fotoreihe aus Liepāja widmet sich der vorliegende Sammelband, der auf einen Workshop am United States Holocaust Memorial Museum zurückgeht, den die Herausgeberin Valerie Hébert organisierte. Das Vorwort schrieb der Shoah-Überlebende aus Liepāja Edward Anders, den Beiträgen vorangestellt sind die zwölf Bilder. Im Rahmen strafrechtlicher Verfolgung nach dem Krieg wurden die Fotos von verschiedenen Gerichten genutzt und sind infolgedessen in mehreren Archiven überliefert. Im Sammelband sind Abzüge aus dem Bundesarchiv abgedruckt. Neben jedem Foto stehen die Bildlegenden, die von Linkimer, Anders, der ChGK, dem Bundesarchiv, in Yad Vashem sowie im USHMM angefertigt wurden und die sich zum Teil stark voneinander unterscheiden.

Intention des Bandes ist es, sich den Fotos aus interdisziplinärer Perspektive zu nähern. Die Beiträge können in methodologischer Hinsicht weitgehend in drei Kategorien eingeteilt werden: Valerie Hébert und Hillary Earl diskutieren den Umgang mit den Bildern, deren Komposition widmen sich Tanja Kinzel, Danny Hoffman, Daniel H. Magilow und Dorota Glowacka. Daniel Newman und Marilyn Campeau untersuchen den historischen Kontext der Bilder und ihrer Überlieferung.

Hébert fasst im ersten Kapitel die wissenschaftliche Diskussion über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Bildern aus Gewaltkontexten zusammen. Sie gibt vor allem die Argumente von Susan Sontag und Georges Didi-Huberman wieder und kommt in Bezug auf die Bilder aus Liepāja zu dem Schluss, dass David Zivcon sein Leben riskierte, damit die Welt diese Bilder sieht, und wir damit in dieser Verantwortung stehen. Wie auch die meisten anderen Autor:innen des Bandes diskutiert Hébert vor allem wissenschaftliche Analysen von Bildern, die im Kontext der Vernichtungslager oder Ghettos entstanden. Die Forschung zu Fotos aus dem Kontext der Massenerschießungen werden nicht herangezogen.1 Nur Hillary Earl nutzt in ihrem Beitrag über den Einsatz der Fotos in der universitären Lehre Fotos von anderen Massenerschießungen. Earl, die eine Art Gebrauchsanweisung für Lehrende vorlegt, ist auch die Einzige, die auf Herausforderungen bei der Nutzung von Holocaust-Fotografien durch die Digitalisierung eingeht. Sie diskutiert, wie Studierende in Zeiten permanenten Fotografierens durch Smartphones für die kritische Auseinandersetzung mit Fotos aus Gewaltkontexten sensibilisiert werden können.

Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes geben der moralischen Frage um das Zeigen oder Nicht-Zeigen der Bilder viel Raum und thematisieren auch die Identität der abgelichteten Personen. Einige der Menschen auf den Šķēde-Bildern konnten in der Vergangenheit – besonders durch den Einsatz von Edward Anders – identifiziert werden. Zwar benennt unter anderem Daniel Newman in seinem historischen Überblick zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Liepāja die Menschen, die auf den Bildern abgelichtet sind. Doch leider liefert weder sein Beitrag noch ein anderer im Sammelband umfängliche Informationen über deren Hintergrund oder Forschungsergebnisse zu bisher nicht identifizierten Menschen.

Die Darstellung von Opfern und Tätern in der Überlieferung thematisiert Marylin Campeau in ihrer Analyse der Bildbeschriftungen. Sie zeigt, wie die ChGK in ihren Beschreibungen der Opfer diese als „Arbeiterinnen“ oder „friedliche Sowjetbürger“ deklarierte und die von Linkimer als lettische Kollaborateure ausgemachten Männer auf den Fotos kurzerhand zu „deutschen Faschisten“ umdeutete. Campeau bestätigt damit Erkenntnisse der Forschung, dass die sowjetischen Behörden die Erinnerung an die Shoah nicht unterdrückten, sondern in ein universalistisches Narrativ einbetteten. Mindestens genauso interessant wäre es gewesen zu hinterfragen, weshalb Linkimer die lettischen Männer auf den Bildern als Mitglieder der paramilitärischen Aizsargi (Heimwehr) betitelte, die während der Unabhängigkeit Lettlands agierte, nicht aber als Angehörige der unter deutscher Besatzung organisierten Schutzmannschaften beziehungsweise Polizeibataillone. Dies könnte Aufschluss über Wahrnehmung und Wissen der Überlebenden und über das Zusammenleben der ethnischen Gruppen in Lettland vor dem Krieg geben.

Neue Erkenntnisse bringen vor allem die Kapitel, die sich den Bildern aus Perspektive der Fotografie-Geschichte und Forschung zu Konzepten von (Bild-)Ästhetik nähern. So zeigt Danny Hoffman durch Bezugnahme auf Konventionen der (Landschafts-)Fotografie, dass der Fotograf nicht – wie von anderen Autor:innen im Band angedeutet – ein unfähiger Amateurfotograf war, sondern dass er ästhetischen Konventionen seiner Zeit hinsichtlich der Belichtung, der Wahl des Hintergrunds und des Fokus folgte. Diese Analyse handwerklicher Entscheidungen befördert Erkenntnisse darüber zutage, wie der Fotograf bildnerisch die Machtverhältnisse in der Situation darstellte. Hoffman zeigt, wie es dem Fotografen gelang, durch eingefangene Bewegungen den Mord als Prozess – und zwar einen bürokratischen Prozess – darzustellen. Der Autor bereichert mit dieser Analyse die Forschung zur „Arbeitsteilung“ der Täter bei den Massenerschießungen.

Auch Dorota Glowacka geht auf Konventionen von Ästhetik ein, welche sowohl die Fotografen als auch die Betrachtenden beeinflussen. Sie stellt Vergleiche mit bekannten und weniger bekannten Fotografien an, die von Tatbeteiligten der Shoah oder nach der Befreiung der Lager gemacht wurden. Sie zeigt, dass diese Bilder – unabhängig von der Rolle und Motivation der Fotografen – von Vorstellungen über Geschlechterrollen und Schönheitsidealen der westlichen Welt geprägt waren. Darüber hinaus untersucht sie Bilder von älteren Frauen oder denjenigen, die nicht dem genannten Ideal entsprechen, und argumentiert, dass Konzepte von weiblicher Schönheit ein Grund sind, warum Bilder zu „Ikonen“ in der Erinnerung an die Shoah wurden oder nicht: Letztere passen nicht zu Vorstellungen von „unschuldigen“, „guten“ und damit auch „schönen“ Opfern.

Der Sammelband zeigt, dass vor allem in der Fotoanalyse die historische Forschung enorm von der Kooperation mit Expert:innen aus Fotojournalismus, Film- und Kulturwissenschaft profitieren kann. Ein analytischer Blick auf die kulturellen Prämissen, die diese Fotografen leiteten, gibt Aufschluss über die intendierte Wirkung der Bilder. Weniger erfolgreich gelingt die Suche nach der Motivation des Fotografen in Šķēde; mehrere Artikel des Bandes verlieren sich dabei in Spekulationen. Dies liegt auch an der begrenzten Auseinandersetzung mit der Ereignisgeschichte und den Primärquellen. Nachkriegsaussagen von Angeklagten und Zeugen werden kaum hinterfragt, die Analyse der Verantwortlichkeiten und Täter vor Ort bleibt schemenhaft. Auch ein expliziter Bezug auf Fotos aus ähnlichen Kontexten, wie etwa von Johannes Hähle in Babi Yar und Lubny, fehlt, hätte jedoch die in mehreren Beiträgen vorgebrachten Überlegungen über die Beweggründe von Fotografen bereichert.2 Vielleicht ist der Band aber Anstoß, solche Vergleiche zu forcieren.

Anmerkungen:
1 Vergleichsmöglichkeiten bestünden zu Wendy Lower, The Ravine. A Family, a Photograph, a Holocaust Massacre Revealed, Boston 2021, oder zu Michaela Christ, Gewaltbilder. Über das Zeigen und Betrachten von Fotografien der Extreme, in: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas / Stiftung Topographie des Terrors (Hrsg.), Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941–1944, Berlin 2016, S. 300–314.
2 Überlegungen zur Intention Hähles zum Beispiel bei Ulrike Jureit, „Zeigen heißt verschweigen“. Die Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht, in: Mittelweg 13, 1 (2004), S. 3–27.

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